Die Krippe als Begegnungsort

Zum 5. Mal hat die Viko Heiligkreuz-Rotmonten neben der Weihnachtskrippe in Sant’Antonio ein Café eingerichtet. Rund 2’000 Personen haben die Krippe besucht, die Hälfte davon waren Kinder in Begleitung ihrer Eltern oder Grosseltern.

19 Frauen bedienten einen Monat lang die Gäste mit Kaffee, Tee, Apfel- oder Orangenpunsch. Rund die Hälfte der Frauen hat eine Teilzeitstelle und möchte mehr arbeiten. Die andern sind vor allem Mütter mit kleinen Kindern. Die Viko gibt ihnen Fr. 80 für die 3½ Stunden Arbeit.
Das Kaffee Ausschenken ist sehr beliebt. Bereits im Sommer fragen die ersten, ob sie wieder Kaffee anbieten dürfen. Sie schenken mir ein Brot oder einen Kuchen und empfehlen sich damit für den Service in der Kaffeestube. Die Wünsche übersteigen die Einsatzmöglichkeiten. Die Frauen begreifen aber sehr gut, dass jede von ihnen nicht mehr als zweimal zum Einsatz kommen kann. Sie nehmen Rücksicht aufeinander.

Bedürftigen Menschen begegnen

Es hat sich herumgesprochen, dass ich oft bei der Krippe anzutreffen bin. Armutsbetroffene aus der Stadt und darüber hinaus kommen mit ihren Anliegen. Hier ein paar Beispiele:
Eine Mutter klopfte ans Fenster, als ich noch mit dem Aufbau der Krippe beschäftigt war. Sie brachte ihr Kind in eine private Fördergruppe. Es ist sprachlich und motorisch verlangsamt und schielt mit beiden Augen. Nach einem halben Jahr mussten die Eltern feststellen, dass diese Spielgruppe ihre Einkünfte übersteigt. Sie baten die Viko um finanzielle Unterstützung.
Eine Mutter in Trennung konnte endlich eine grössere und günstige Wohnung finden. Sie hatte aber bei der Kündigung übersehen, dass die Kündigungsfrist vier und nicht drei Monate beträgt. Die Viko übernahm die Miete, die wegen dieses Fehlers in einem Monat zusätzlich zu bezahlen war.
Eine andere alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern konnte die Miete auch nicht aufbringen. Sie musste jemanden für die Betreuung der Kinder engagieren, weil ihre Mutter ausgefallen war. Sie brachte mir den Kontoauszug des ganzen Monats. Beschämt konnte ich mitverfolgen, wie sie sich mit Klein- und Kleinsteinkäufen bis ans Monatsende rettete.

Dieses Jahr drücken die zusätzlichen Nebenkosten schwer auf die Lebenskosten. Für eine fünfköpfige Familie war es mit Fr. 1’740 und einem gemeinsamen Einkommen von Fr. 5’000 zu viel. Allerdings musste ich sie darauf hinweisen, dass der Kleinwagen ihr Einkommen übersteigt und wir keine Unterstützung gewähren können, wenn das Auto nicht für die Arbeit nötig ist. Die Enttäuschung konnte ich der Familie nicht ersparen.
Es gibt aber auch die gegenteilige Erfahrung: Eine somalische Frau betrat im schönsten Festkleid den Saal und brachte mir Blumen und Pralinen für die Hilfe, die sie vor ein paar Wochen empfangen hatte. Diese bestand vor allem im dringenden Rat, nicht länger zuzuwarten und das Sozialamt aufzusuchen.

In der Weihnachtszeit haben viele das Bedürfnis, nicht allein zu sein. Einige machten auf ihrem täglichen Spaziergang einen Abstecher ins Krippen Café. Sie sassen vor die Krippe und liessen sich mitnehmen nach Bethlehem zu Mutter und Kind, allen, die dorthin geeilt sind, und betrachteten die Handwerker, die sich liebevoll ihrem Tagwerk widmeten. Sie liessen sich einlullen von der Musik, dem Tag- und Nachtwerden, den Hirtenfeuern, dem Sternenhimmel und dem Plätschern des Wassers im Bach. Sie wünschten sich, in dieser Geborgenheit über Weihnachten hinaus zu bleiben.
Am 24. Dezember kamen mehrere Familien mit Jugendlichen, die teilweise im Rollstuhl waren. Allen im Saal war klar, dass gerade sie zur Krippe gehören.

Der Not ein Gesicht geben

Einmal standen Flüchtlinge vor dem Eingang, wo sie die Pause während des Deutschkurses verbrachten. Ich bat sie hinein. Ihre Augen leuchteten. Sie hatten noch nie eine Krippe mit sich selbst bewegenden Figuren gesehen. Sie lachten über die Mäuse, den Trinker, der von seiner Frau einen Hieb mit dem Besen einstecken musste und den Bauern, der von seinem klugen Esel hineingelegt wurde und umfiel. Wir benannten miteinander die Tiere. Wir suchten die Worte für die Handwerker, den Bach, den Mond und die Sterne. Und immer wieder rief jemand «Wie bei uns zu Hause!»

Am Morgen, als ich mich aufmachte, um die Krippe wieder abzubauen, sah ich an der Bushaltestelle eine drogensüchtige Frau. Ich kannte sie vom Marktplatz her, weil ich mit ihr dort einmal mit dem Tandem herumgefahren war und sie in den Kurven überlaut kreischte. Ich fragte sie, ob sie Zeit habe, etwas Besonderes zu sehen. Sie hatte und ich setzte die Krippe zum letzten Mal in Betrieb. Die Frau filmte die Krippe mit dem Handy und schickte den Film ihrer Mutter nach Österreich. Sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte: Sie hat zwei Kinder, eine Tochter, die jetzt die Hotelfachschule besucht, und einen 10 Jahre jüngeren Sohn, der blind ist. Er lebt seit der Scheidung bei seinem Vater. Ich konnte nur ahnen, welche Abgründe sich in ihrem Leben aufgetan hatten.

Vor 40 Jahren begannen die Italiener, in Sant’Antonio eine Krippe zu bauen. Sie wollten sich damit eine Heimat schaffen und die Geborgenheit in der Familie erleben. Sie litten unter dem Saisonnier Statut, das sie für neun lange Monate von ihren Frauen und Kinder trennte. So hielten sie ihre Sehnsucht aus. Echter kann man eine Krippe fast nicht bauen. Wir haben ihr Erbe bewahrt und erweitert.

St. Gallen, Ende Januar 2024 von Peter Oberholzer

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