Das Tandem bewährt sich

Das Jahr 2023 war auch für das Tandem ein guter, sonniger Jahrgang. Viele Beine pedalten rund 1’000 Kilometer ab. Der längste Ausflug führte um den Bodensee. Manchmal ruhten lebensschwere Füsse auf der Fussstütze aus. Dafür ging das Herz mit und die Augen leuchteten.

Eindrücklich war die Ausfahrt mit einem 18-Jährigen, der an MS (Multiple Sklerose) erkrankt ist und in eine Wohngruppe einziehen muss. Seinen Traumberuf Lastwagenfahrer musste er begraben; mit dem Tandem zu fahren, wollte er jedoch probieren. Nach einer halben Stunde konnten wir die Rollen tauschen. Der Mitfahrer setzte sich ans Steuer, ich auf den Sozius. Nun war es an mir, mich seinem Können anzuvertrauen. Am Ende der Fahrt konnte ich ihm sagen, dass er die nächste Fahrt von Anfang bis Ende selbst steuern dürfe. So mutierte ich – sein ehemaliger Religionslehrer – zu seinem Fahrgast.

Doppelte Lebensfreude

Ein Mitglied der Tandem Crew fuhr mit seinem Freund bereits zweimal an den Bodensee.
Mit 23 Jahren wurde dieser nach einem Kletterunfall körperlich schwer behindert. Früher machten sie miteinander Touren mit einem herkömmlichen Tandem, beide hintereinander und ohne Unterstützung eines Elektromotors. Eine Strapaze! Von ihm, der immer in der gleichen Institution isst, lernten wir, dass Tandem fahren ein Fest ist. Es muss mit einem Essen in einem gemütlichen Ort gefeiert werden. So hält das Tandem ihre über 40 Jahre alte Freundschaft lebendig. Lebensfreude für zwei.

Ein 83jähriger Mann war leidenschaftlicher Velofahrer, bis ihn ein Auto beim Überholen touchierte. Seither konnte er nicht mehr gehen und wurde dement. Eine Tochter sah das Viko-Tandem und wollte mit ihrem Vater ausfahren. Sie nahm eine Fahrstunde bei mir. Am vereinbarten Sonntag eskortierten drei Geschwister und eine Enkelin das Tandem mit ihrem Velo zu Dreiweihern hoch über St. Gallen. Die Ehefrau folgte mit dem Auto. Nach der Umrundung der Weiher kehrten sie im Restaurant ein. Am Montag kamen dem Mann bei der Spitexfrau so viele Worte über die Lippen wie schon lange nicht mehr.

Die Familie war überglücklich, sie wiederholte den Ausflug. Es war sein letzter. Wenige Wochen später starb er.

Die Viko bekannt machen

Das Tandem eignet sich bestens, um Kindern und Jugendlichen zu sagen, was die Viko ist.
Ich fahre regelmässig durch die Quartierstrassen, wo viele Kinder wohnen. Sie rufen von weitem: «Darf ich mitfahren?» Wenn es geht, nehme ich sie mit und erkläre, was die Viko ist, wie sie Menschen in Not hilft und Menschen mit Einschränkungen Lebensfreude schenkt. Wenn ich genug Zeit habe, drehe ich ein paar Runden auf dem Schulhausplatz, denn hier kann man so enge 360 Grad Kurven fahren wie mit keinem anderen Gefährt. Die Fliehkräfte wirken stark, die Kinder lachen noch stärker. Dagegen ist die Tütschi-Autobahn der Olma eine Andacht.

Einmal waren über 40 somalische Kinder und gegen 20 somalische Frauen mit ihren farbenfrohen Kleidern im Park, der ans Schulareal grenzt. Die Kinder rannten herbei, die Mütter reihten sie in Zweierkolonne auf. Ich fuhr jeweils Ferrari-mässig an die Boxe, nahm ein Kind mit, drehte in alle Himmelsrichtungen Spitzkehren, fuhr Slalom durch die Säulen der Pausenhalle und steuerte nach dem Zielschuss zurück an die Boxe. Selbst Zweijährige wollten mitfahren.

Ihre Mütter stiegen auf den Sozius, klappten die Seitenlehnen hinunter, stellten die Füsse aufs Fussbrett, umarmten ihr Kind und dann gings los, freilich gemässigter. Ich habe es nie für möglich gehalten, dass somalische Frauen neben einem unbekannten Mann (und erst noch einem von der Kirche!) Platz nehmen und sich von ihm in der Öffentlichkeit chauffieren lassen. Doch Mütter wollen, dass ihre Kinder lachen und glücklich sind. Das Tandem pustet die kulturellen, religiösen und sozialen Schranken einfach weg. Herrlich! Bis alle Kinder einmal auf dem Tandem gefahren waren, begann es einzunachten. Ich nahm mir vor, im Frühling erneut mit dem Tandem auf dem Schulplatz aufzukreuzen. Mehrmals.

St. Gallen, Ende Oktober 2023 von Peter Oberholzer

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